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Montag, 19. August 2019

Lügde und Staufen sind überall

1. Missbrauchsopfer, Mitbetroffene und ihre HelferInnen benötigen unser aller Unterstützung

Das Schicksal der Kinder, die in Lügde und Staufen organisiert sexualisiert gefoltert wurden und deren TäterInnen ihre widerwärtigen, menschenverachtenden Sexualhandlungen auch noch gefilmt und verbreitet haben, hat viele Menschen sehr bewegt, das mutmaßliche Versagen von Behörden und Politik die Öffentlichkeit empört und geschockt. In der Hinsicht ähneln wir alle der Bewohnerschaft des Campingplatzes Eichwald: vor unseren Augen werden Kinder sexuell ausgebeutet, deren Demütigung und Qual gefilmt, Opfer, die um Hilfe bitten, genauso ignoriert wie deren HelferInnen. Oft genug so lange, bis Medien oder beherzte (Fach-)Personen einschreiten. Es gibt bei Organisiertem sexuellen Missbrauch zahlreiche Querverbindungen zu anderen Formen der Kriminalität und in alle gesellschaftlichen und politischen Milieus. Beispiele: NSU, Odenwaldschule, rechte Terrorgruppen, Sport, Staatssicherheit der DDR, bündische/kirchliche Missbrauchsstrukturen.

Wir, die Unterzeichnenden, Opfer und Mitbetroffene sexuellen Missbrauchs in Kindheit und/oder Jugend, nehmen die große Anteilnahme der Bevölkerung an den furchtbaren Straftaten, die in Lügde und Staufen verübt wurden, als gutes Zeichen dafür wahr, dass die früher vorherrschenden fahrlässigen und opferfeindlichen Einstellungen einer Orientierung auf Kinderschutz und Opferhilfen hin gewichen sind. Aber erst langsam dringt ins Bewusstsein von Politik, Behörden und Allgemeinheit, wie verbreitet organisierter Missbrauch ist und dass es sich keineswegs um eine neue Art von Verbrechen an Kindern handelt.

2. Sechs Jahre Ergänzendes Hilfesystem für Missbrauchsopfer

In Deutschland leben laut Dunkelfeldstudien allein eine Million von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche (1). Die Politik versprach 2011, die Vorschläge des Runder Tisch Kindesmissbrauch zeitnah umzusetzen, darunter das Ergänzende Hilfesystem für Missbrauchsopfer. Am 1. Mai 2019 jährte sich zum sechsten Mal der Tag, an dem der Fonds Sexueller Missbrauch vom Bund eingerichtet worden ist (2). Wir begrüßen die Entscheidung des Kabinetts, den Fonds Sexueller Missbrauch weiter zu finanzieren, sehr. Der FSM unterstützt auf niederschwellige Weise Betroffene sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend. Besonders kommt dies Opfergruppen zu Gute, welchen unser Staat und unsere Gesellschaft bisher nicht oder nicht angemessen helfen. Dazu gehören Kinder die sofort Unterstützung benötigen, Menschen mit Behinderungen, Betroffene organisierter sexueller Ausbeutung/ritueller sexueller Gewalt/sektenähnlichen Missbrauchs.

3. Kein Missbrauchsopfer darf ausgeschlossen bleiben

Es gibt leider Gruppen von Missbrauchsbetroffenen, die von den spezifischen Ergänzenden Hilfen ausgeschlossen sind. Es handelt sich um Menschen, an denen die Missbrauchstaten vor 1949 bzw. nach dem Stichtag 30. Juni 2013 verübt wurden (StORMG), Opfer nicht am FSM beteiligter Institutionen, denen von FremdtäterInnen und Ehemalige Heimkinder. Nur ein Teil der Opfer von Lügde und keines der aus Staufen könnten aktuell beim Fonds Sexueller Missbrauch Ergänzende Hilfen erhalten. Das darf nicht sein und muss so schnell wie möglich geändert werden. Und leider gab und gibt es gerade für einstmals in Kinder- und Jugendheimen internierte Menschen aus historischen und gesellschaftlichen Gründen besonders wenig oder sogar gar keine Unterstützung.

4. Opfern organisierten Verbrechens zu helfen, erfordert Entschlossenheit, Kompetenz und gute Vernetzung

1/5 der mittlerweile mehr als 12 000 beim Fonds Sexueller Missbrauch eingegangenen Anträge gehören zum Bereich organisierten Missbrauchs, wie er in Lüge und Staufen, aber auch an vielen anderen Orten, in Familien und innerhalb von Institutionen verübt wurde und fortwährend wird (3). Wir haben es mit mafiösen Strukturen zu tun und es ist leicht vorstellbar, wie schnell Hilfesysteme bei der Regulation der Folgen komplexer Kriminalität an ihre Grenzen geraten. Das bemerken wir auch beim Fonds Sexueller Missbrauch. Die Geeignetheit der Leistungen zu prüfen, die AntragstellerInnen und ihre HelferInnen dabei zu unterstützen, für Sicherheit zu sorgen und den Ausstieg zu organisieren, Institutionen zu motivieren, sich ihrer Verantwortung zu stellen und mit der Kultur der Vertuschung und Instrumentalisierung zu brechen, erfordert Umsicht, viel spezifisches Wissen und äußerst klare Absprachen. Die dafür notwendigen Ressourcen zu schaffen, ist nicht leicht. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), ein Haus dem gern unterstellt wird, nur für weiche Anliegen zuständig zu sein, hat die Beschäftigung mit einem sehr harten Thema nicht gescheut und sich dabei gut geschlagen. Wir empfehlen dringend, auch in Zukunft die fachliche Aufsicht und Kontrolle für Prävention und Hilfen im Bereich der Organisierten Missbrauchskriminalität beim BMFSFJ zu belassen, aber die damit Befassten fortan besser zu unterstützen, so dass sie sich noch mehr vernetzen und somit Ausstiegshilfen so zeitnah und sicher wie möglich gewähren können.

Angelika Oetken Sexualisierte Misshandlung-Betroffenenteam, Betroffene Tatort familiäres Umfeld, Co-Sprecherin des Betroffenenbeirates beim Fonds Sexueller Missbrauch, Mitglied eines Gremiums der Clearingstelle des FSM

Dr. Henning und Monika Stein Mitbetroffene Tatort Behinderteneinrichtung, Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch

Winfried Ponsens Missbrauchsopfer Collegium Josephinum Bonn und Redemptoristen e.V., Betroffener Tatort Römisch-katholische Kirche, Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch

Jacqueline Ehmke Sexualisierte Misshandlung-Betroffenenteam, Betroffene Tatort Familie, Mitglied des Lenkungsausschusses des Ergänzenden Hilfesystems- Fonds Sexueller Missbrauch, Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch

Maren Ruden Initiative Die Rose, Betroffene Tatort Familie, Mitglied des Lenkungsausschusses des Ergänzenden Hilfesystems- Fonds Sexueller Missbrauch, Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch

Bernd Held Initiative Ehemaliger Johanneum Homburg, Betroffener Tatort Römisch-katholische Kirche, Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch

Liane Mueller-Knuth Betroffene im katholischen Kinderheim und auch im familiären Bereich, sowie Mitglied im Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch

Jörg-Alexander Heinrich, Eckiger Tisch Bonn e.V., Betroffener Tatort Römisch-katholische Kirche, Co-Sprecher des Betroffenenbeirates beim Fonds Sexueller Missbrauch

(1) Die WHO gehe für Europa von Durchschnittswerten um neun Prozent für sexuellen Missbrauch aus. Dies bedeute bei rund 13 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland mehr als eine Millionen Betroffene. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/65813/Rund-eine-Million-Kinder-in-Deutschland-von-sexueller-Gewalt-betroffen

(2)www.fonds-missbrauch.de

(3)https://www.kinderschutz-zentren.org/Mediengalerie/1525695685_-_Fachkreis_Empfehlungen_2018_Einzelseiten_Selbstdruck.pdf