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Donnerstag, 22. August 2019

Wahrnehmen und verstehen können, was Missbrauchsopfer uns mitteilen

Die vergangenen Jahrzehnte über haben sich immer wieder von sexueller Ausbeutung, Misshandlung und Gewalt betroffene Menschen, umgangssprachlich als Missbrauchsopfer bezeichnet, öffentlich zu Wort gemeldet und von dem berichtet, was ihnen widerfahren ist. Dies geschah in Wellen, die letzte setzte 2010 ein und flutete unsere Gesellschaft so stark, dass sie sogar als Missbrauchstsunami bezeichnet wurde. Die Schilderungen der Betroffenen lösen unterschiedliche Gefühle bei ihren Adressaten aus. Sie reichen von Anteilnahme und Mitgefühl über Entsetzen und Schaudern, bis hin zu Skepsis, Zweifeln und sogar Misstrauen und Ablehnung. Für die Opfer sind die Reaktionen ihrer Mitmenschen äußerst bedeutsam. Zu oft hatten sie in ihrer Kindheit und Jugend, aber auch noch als Erwachsene erleben müssen, dass man ihnen mit Unglauben begegnete. Unabhängig davon, dass dies häufig nur vorgeschützt wird, um die, welche das Unsagbare aussprechen, zum Schweigen zu bringen, brüskieren und verletzen diese Verhaltensweisen Betroffene sehr. Sie werden von ihnen als Ausschluss, Abwehr und Ausgrenzung erlebt und dieser Effekt ist oft wohl auch beabsichtigt. Manche Menschen bezeichnen das sogar als zweiten Missbrauch. Nicht nur von Opfern hört man deshalb immer wieder die Forderung, man möge dem, was sie berichten, Glauben schenken. Bedeutet das aber, man sollte die Schilderungen von Missbrauchsbetroffenen grundsätzlich 1 : 1, gewissermaßen digital, wortwörtlich nehmen? Ganz sicher nicht. Der Aufruf kann lediglich als Motivation aufgefasst werden, sich klar zu machen, wie verbreitet sexueller Missbrauch ist und wie schwer es Betroffenen gemacht wird, das was man ihnen angetan hat, zum Ausdruck zu bringen.

Grundsätzlich darf man sich die Frage stellen, ob es notwendig ist, in allen Bezügen zum Thema die Maßstäbe, die derzeit von der Justiz an die Glaubhaftigkeit der Schilderungen von Missbrauchsbetroffenen angelegt werden zu verwenden. So wird leider immer noch häufig verfahren, nicht nur, wenn es um Kostenübernahmen für Psychotherapien oder Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz geht, sondern auch im Alltag. Denn selbst wenn sich jemand nicht genau an Ort, Uhrzeit und Details im Zusammenhang mit den an ihm verübten Missbrauchstaten erinnert, bedeutet das nicht, dass diese nicht passiert sind. Es gibt Gewalterfahrungen, die sich detailliert, exakt und wieder abrufbar in das Gedächtnis eingebrannt haben. Andere Erinnerungen sind in der traumatischen Situation zersplittert und müssen erst mühsam wieder zusammengesetzt und dann als verarbeitete Erinnerung im biografischen Gedächtnis eingeordnet werden (in einem längeren Verarbeitungsprozess durch eigene Selbstheilungskräfte und/oder mit Hilfe einer Traumatherapie). Insbesondere sehr frühe Erfahrungen (als Baby, Kleinkind) werden oft nur in Teilen erinnert, z.B. als Todesangst ohne dazugehörende Bilder und Informationen, was konkret diese Todesangst ausgelöst hat. Das menschliche Grundbedürfnis nach Verstehbarkeit und Handhabbarkeit kann dazu führen, dass bewusst oder unbewusst nach Erklärungen gesucht wird. Oft kann im Rahmen des Verarbeitungsprozesses eine stimmige Erklärung gefunden werden, in anderen Fällen bleibt dies vage oder unbekannt. Es kann ein wirksamer Überlebensmechanismus in traumatischen Situationen sein, dass die Erinnerung zersplittert und so nicht als Ganzes ertragen werden muss, oder dass eine andere, weniger schreckliche Begründung gefunden wird. Viele Betroffene kennen den eigenen Zweifel, ob das Erlebte wirklich wahr sein kann. Manche Erkenntnisse sind so furchtbar und bezeugen einen so umfassenden Verrat durch die Personen im nächsten Umfeld der kindlichen Opfer, dass sie nicht aushaltbar sind und stattdessen abgespalten oder umgedeutet werden müssen. Das betrifft direkt Betroffene ebenso wie ihr soziales Umfeld und die Gesellschaft. Ein Beispiel: Der fürsorglich erscheinende, sozial und beruflich engagierte Vater und Kollege, der seine Kinder sexuell missbraucht und Missbrauchsabbildungen im Internet konsumiert. Wir wollen das nicht glauben! Noch weniger, wenn die Umstände der sexuellen Ausbeutung und Misshandlung verbreitete Rollenvorgaben brechen, weil es sich bei den Tätern um Respektspersonen, z.B. Priester handelt. Oder der Missbrauch durch Frauen verübt wird. Aber ohne genaues Hinsehen und Wahr-Haben können keine Intervention, keine Prävention und keine Verarbeitung des Erlebten stattfinden. Auch deshalb ist es so wichtig, dass die Gesellschaft im Großen wie im Kleinen Rahmenbedingungen schafft, damit Betroffene und ZeugInnen sprechen, gehört werden und sich damit auseinandersetzen können. Das gilt nicht nur für komplex traumatisierte Menschen, die oft schon von frühester Kindheit an manipuliert, konditioniert, separiert, auf grausame Weise mental zugerichtet wurden und deren Erleben und Erinnern sich nachvollziehbarerweise von dem der meisten Menschen, die so etwas nicht erleiden mussten unterscheidet. Sondern für alle, die als Kinder bzw. Jugendliche erleben mussten, was offiziell nicht sein darf.

Die begonnen Prozesse der Aufklärung und Aufarbeitung haben uns gerade in den vergangenen Jahren aufgezeigt, dass viele Schilderungen von traumatisierten Menschen genauso übersetzt werden müssen wie ein fremdsprachlicher Text und interpretiert wie ein abstraktes Gemälde, ein kunstvoller Liedtext oder ein Stück moderner Lyrik. Die Berichte sollten in ihrem Kontext gehört und verarbeitet werden. Das Handwerkszeug und das wissenschaftliche Fundament dazu liefert uns die Psychotraumatologie. Hinter den Schilderungen von Betroffenen organisierter bzw. ritueller Missbrauchskriminalität, sie seien von fremden Wesen entführt und gefoltert worden, kann sich die Tatsache verbergen, dass es KindesmissbraucherInnen gibt, die ihren Opfern bewusstseinsverändernde Substanzen einflössen, um sie besser sexualisiert foltern zu können. Kultische Anleihen, Fackeln, Masken, Embleme, Rituale dienen als Kaschierung für grausamen Sadismus und Kinderhandel. Es kommt auch vor, dass jemand, der in ein Gefüge hineinwächst, welches die Bezeichnung Familie oder Gemeinde nicht verdient, vieles von dem Schrecklichen, das er erlebt hat, nur bruchstückhaft und eben aus einer kindlichen Perspektive heraus erinnern kann. Und ein Kind, das quasi aus einem Hinterhalt heraus mit den schädigenden Seiten pervertierter erwachsener Sexualität konfrontiert wird, kann in einen Zustand maßloser Erschütterung geraten, in dem es ihm eben nicht gelingt, das Erlebte so zu erinnern und wieder zu geben, dass es im korrekten zeitlichen, örtlichen und sachlichen Kontext steht. Trotzdem ist es Realität und wahr. Wer sich auf diese Weise mit den Berichten der Missbrauchsbetroffenen auseinandersetzt, aufgeschlossen, kundig, wertschätzend, aber mit der notwendigen Portion gesunder Distanz, wird in ihnen Realitäten abgebildet finden, die überall in unserem Alltag vorhanden sind, aber nach wie vor gut verborgen werden.

Klar zu unterscheiden ist dies von der Wahrheitsfindung im juristischen Kontext. Sexuelle Gewalt ist meist eine Straftat ohne weitere Zeugen und ohne Sachbeweise (eindeutige Verletzungen, Videoaufzeichnungen etc.). Im Strafverfahren ist deshalb die Aussage der/des Opfers (OpferzeugIn) ein wesentliches und oftmals das einzige Beweismittel. Im Rechtsstaat soll niemand zu Unrecht verurteilt werden, es gilt das Grundprinzip im Zweifel für den Angeklagten. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an die Beweisbarkeit der geschilderten Taten. Sehr häufig muss das Verfahren eingestellt werden, weil eine Wahrheitsfindung mit juristischen Mitteln nicht möglich ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Opfer lügt bzw. (unwahre) Geschichten erzählt.

Wir möchten deshalb dazu anregen, den Begriff Geschichten in Bezug auf sexualisierte Traumatisierungen, die in Kindheit und Jugend erlebt und später von den Betroffenen berichtet werden, sehr bedacht zu nutzen. Es hat für Betroffene von Kindesmissbrauch zumindest zu Beginn der eigenen Aufarbeitung - eine zentrale Bedeutung, wie das Umfeld ihre Schilderungen aufnimmt. Ob man ihnen offen begegnet und Anteil nimmt oder Unglauben äußert. Das Risiko, durch ihre Selbstoffenbarung stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden, wiegt für die Opfer wesentlich schwerer als mutmaßliche Vorteile, die sich durch eine besondere Aufmerksamkeit ergeben könnten. Und falls dies überhaupt einmal eintritt, verfliegt der Effekt schnell. Daraus die generelle Notwendigkeit abzuleiten, Missbrauchsschilderungen grundsätzlich erstmal für unglaubwürdig zu halten, ist daher genauso wenig gerechtfertigt, wie ein unreflektiertes Vertrauen auf den Realitätsgehalt des Dargestellten.

Berlin-Köpenick, den 25. September 2016


Angelika Oetken, Sexualisierte Misshandlung-Betroffenenteam, Aktivverbund e.V., Co-Sprecherin des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch, Mitglied eines Gremiums der Clearingstelle

Jacqueline Ehmke, Sexualisierte Misshandlung-Betroffenenteam, Mitglied des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch, Mitglied des Lenkungsausschusses Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Sylvia Witte, 1. Vorsitzende MoJoRed e.V. (Missbrauchsopfer Josephinum und Redemptoristen), Mitglied des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Maren Ruden, Betroffeneninitiative Die Rose, Mitglied des Betroffenenbeirates und des Lenkungsausschusses Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Winfried Ponsens, Geschäftsführer von MoJoRed e.V. (Missbrauchsopfer Josephinum und Redemptoristen), Mitglied des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Heidelore Rampp, Arbeitsgemeinschaft Ehemaliger Heimkinder Deutschlands (AeHD), Mitglied des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Renate Schusch, Aktivverbund e.V., Mitglied des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Jörg-Alexander Heinrich, Eckiger Tisch Bonn e.V., Co-Sprecher des Betroffenenbeirats des Ergänzenden Hilfesystems Fonds Sexueller Missbrauch

Kontakt über: Angelika Oetken, Ergotherapiepraxis, Borgmannstraße 4, 12555 Berlin-Köpenick, info@ergo-oetken.de