Samstag, 13. Juni 2020
Bundesstiftung Ausstiegshilfen (Feuerwehrfonds)
Das Ergänzende Hilfesystem für Missbrauchsopfer – Fonds Sexueller Missbrauch läuft mittlerweile mehr als 7 Jahre. Es hat vielen Menschen geholfen, neue Erkenntnisse geliefert, aber auch deutliche Schwächen gezeigt. Dieses Konzept ist eine Weiterentwicklung und Aktualisierung eines Vorschlages, den der Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch gemeinsam mit der Projektgruppe „Fonds Stiftungen“ des BMFSFJ und dem UBSKM entwickelt hat als der FSM Ende April 2016 auslaufen sollte. Da das BMFSFJ damals überraschenderweise den Missbrauchsfonds fortführte, konnte der Feuerwehrfonds leider nicht umgesetzt werden. So dass wir heute, sollte der FSM enden, wieder wie ganz am Anfang dastehen.
Bisheriges FazitVon den Sachleistungen, die das Ergänzende Hilfesystem gewähren kann, haben drei Gruppen von Missbrauchsbetroffenen in besonderer Weise profitiert. Ihnen stehen zwar formal die gleichen gesetzlichen Regelhilfen zu wie anderen Opfern auch, aber praktisch erhalten diese Menschen die nur unter immensen Schwierigkeiten, mit zu großer Zeitverzögerung oder die Inanspruchnahme bildet ein schwerwiegendes persönliches Risiko bzw. verschlechtert die ohnehin schon schlimme Lebenssituation dieser Betroffenen. Es handelt sich um
- Kinder und Jugendliche
- Schwer behinderte Menschen
- Betroffene, die im organisierten/rituellen/sektenartigen Kontext sexuell ausgebeutet wurden oder werden
Diese Menschen benötigen Hilfen, die die Regelleistungen ergänzen. Das Konzept dafür trägt den Arbeitstitel „Feuerwehrfonds“. Es soll um schnelle 1. Hilfen und Ausstiegsbegleitung für spezielle Opfergruppen gehen.
Begründung
Kinder und Jugendliche bekommen in unserer Gesellschaft grundsätzlich relativ viel Unterstützung. Werden sie allerdings sexuell missbraucht, sind die Leistungen, die die Regelsysteme bieten, häufig nicht spezifisch genug oder die Beantragung dauert so lange, dass die negativen Folgen für die Opfer sich zwischenzeitlich manifestieren und oft leider auch kumulieren. Läuft ein Strafverfahren wird besonders bei minderjährigen Opfern davon abgeraten, vor dessen Abschluss eine Traumatherapie zu beginnen. Denn man befürchtet, die Gegenseite werde dann unterstellen, durch die Behandlung seien die OpferzeugInnen beeinflusst, deren Erinnerungen verfälscht oder gar falsche Inhalte induziert worden. Und das vor dem Hintergrund, dass zwischen Anzeige und Urteil Jahre vergehen können. Dabei lautet eine Grundregel: „Je früher, umsichtiger und nachhaltiger interveniert wird, desto milder die Folgen für die betroffenen Kinder“. Hinzu kommt, dass die meisten sexuellen Übergriffe durch TäterInnen geschehen, die dem näheren oder erweiterten familiären Umfeld der Kinder angehören. So dass deren Möglichkeiten, Hilfe bzw. Schutz und Sicherheit zu erhalten, sich sehr begrenzen. Für UnterstützerInnen öffnet sich meistens nur ein kleines Zeitfenster, in dem sie wirksame Interventionen platzieren können. Oder es fehlen die finanziellen Mittel, um den traumatisierten Kindern etwas zugute kommen zu lassen, das ihnen hilft, Abstand zum missbrauchenden Milieu zu gewinnen und neue Kräfte zu sammeln. Im EHS-FSM wurden die Anträge für noch nicht volljährige Personen vorrangig bearbeitet. So dass zwischen Antragseingang und Bescheid oft nur wenige Wochen lagen. Es erklärt sich von selbst, dass die EHS-Anträge nicht von den Kindern oder Jugendlichen selbst, sondern durch Erziehungsberechtigte oder Amtspersonen gestellt wurden. Von diesen erhält die Geschäftsstelle des EHS immer wieder Rückmeldungen, wie förderlich und wichtig es für das betroffene Kind war, eine schnelle und gleichzeitig passgenaue Maßnahme gewährt zu bekommen. Bei einigen Opfern geht es schlichtweg darum, sie so schnell wie möglich aus einem Bereich zu entfernen, in dem ihr Leben in Gefahr ist. Die meisten Menschen, darunter auch viele ExpertInnen und Amtspersonen, können oder wollen sich nicht vorstellen, dass so etwas in Deutschland möglich ist, weil es ihren Glauben an wichtige gesellschaftliche Werte und Übereinkünfte in Frage stellt und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung zuwider läuft. Deshalb ist es viel schwieriger als ohnehin schon, diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen.
Schwer behinderte Menschen verfügen eh nur über stark eingeschränkte Möglichkeiten und Mittel, Leistungen über die Regelhilfesysteme zu erhalten. Gleichzeitig tragen Kinder und Jugendliche mit Handicap ein ungleich höheres Risiko, Opfer von sexueller Ausbeutung zu werden als ihre unbeeinträchtigten Altersgenossen. Die Sensibilität dafür hat sich erst in den vergangenen Jahren langsam entwickelt. Vorher war die sexuelle Ausbeutung von behinderten Menschen zwar in der Helferszene ein offenes Geheimnis, aber in der breiten Öffentlichkeit besonders stark tabuisiert. Zu den typischen Traumafolgestörungen für alle Gruppen von Betroffenen gehören komplexe, chronische gesundheitliche Schäden sowieso schon. Ein Umstand, der dazu führt, dass Missbrauchsopfer weit überproportional unter dauerhaften Behinderungen leiden. Etliche der AntragstellerInnen sind schwer behindert und schildern sehr anschaulich und plausibel, welchen Zusammenhang es zwischen ihren Missbrauchserfahrungen und den komplexen Problemen gibt, die sie aktuell im Leben belasten und die ihre Perspektive, Teilhabe und Lebensqualität stark einschränken. Manchmal sind es vergleichsweise unaufwändige Sachleistungen, die diese Menschen beantragen und mit denen sie eine wesentliche Lücke füllen möchten, um sich ihren Alltag zu erleichtern, ein Stück Last abzuwerfen oder neue Kräfte zu schöpfen. Es fällt auf, dass gerade die behinderten AntragstellerInnen mehrheitlich besonders schlüssig argumentieren, wenn sie darstellen, inwieweit die von ihnen beantragte Hilfe geeignet ist, Folgen des erlittenen Missbrauchs zu lindern oder sogar zu beheben. Wir führen das darauf zurück, dass diese Menschen es aufgrund ihrer Handicaps ohnehin schon gewohnt sind, pragmatisch zu denken und zu handeln und sich deshalb sehr genau überlegen, wo hinein sie ihre begrenzten Ressourcen investieren und was ihnen wirklich nützt. Aufgrund ihrer Behinderungen haben diese Betroffenen auch bei der Beantragung von Opferentschädigung größere Probleme als es ohnehin schon bei diesem Verfahren üblich ist. Häufig erlaubt es die Art der Behinderung nicht, medizinische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, so dass diese Maßnahmen im Haushalt der behinderten Person stattfinden müssten oder eine Begleitperson notwendig ist. Ein Mehraufwand, den die gesetzlichen Kostenträger aber oft nicht bezahlen. Auch hier konnte der Fonds Missbrauch einspringen, z.B. für Psychotherapie im Hausbesuch oder einen Gebärdendolmetscher, um Hilfen in Anspruch nehmen zu können.
Betroffene, die im organisierten/rituellen Kontext sexuell ausgebeutet wurden oder werden erfahren in mehrfacher Hinsicht Ausgrenzung und Ablehnung. Eine adäquate Hilfe stellt für diese Opfer die Ausnahme dar.
- Sie werden von den Menschen, durch die sie misshandelt und ausgebeutet werden, gezielt isoliert und darauf konditioniert, den kriminellen Regelwerken der Tätergruppen zu folgen.
- Dies zieht nach sich, dass diese Betroffenen einen eher niederschwelligen und geschützten Zugang benötigen, was in regulären Hilfesystemen unüblich oder unmöglich ist.
- Die gewöhnlichen Therapie- und Hilfsangebote sind nicht auf die besonderen Bedürfnisse dieser Opfergruppe zugeschnitten.
- Da bei organisiert/ritueller Gewalt Kinderhandel/Menschenhandel eine große Rolle spielt, werden dessen Opfer zusätzlich als „Prostituierte“ stigmatisiert und marginalisiert. Die besonders negativen Folgen für die Gesundheit, die sich aus der gewerblichen sexuellen Ausbeutung ergeben, sind bekannt und gut dokumentiert.
- Viele speziell konditionierte Betroffene werden lebenslang eingesetzt. Entweder weil sie auf bestimmte sexuelle Praktiken zugerichtet sind, solche bei denen vom sexuellen Objekt über das im Prostitutionsmilieu übliche Maß hinaus Ekel- und Schmerzschwellen überwunden werden müssen und/oder weil sie später von den Täterringen zu Helfer- oder Rekrutierungsdiensten eingesetzt werden. Da es sich um Schwerstkriminalität handelt, sind diese Opfer für ihre AusbeuterInnen besonders wertvoll.
- Das, was den Betroffenen angetan wird, entspricht dem, was in der Fachliteratur zu schweren sexuell-sadistischen Perversionen aufgeführt ist. Zum Teil geht es noch weit darüber hinaus.
- Die Mehrzahl der AntragstellerInnen, auf die die Merkmale des organisierten/rituellen Kontextes zutrafen, gibt an, dass der an ihnen begangene Missbrauch gefilmt oder fotografiert wurde. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass so genannte „Kinderpornografie“ eine große Rolle spielt. Diese Opfer müssen lebenslang befürchten, mit solchem Material konfrontiert zu werden bzw. mit Personen in Kontakt zu kommen, die diese Bilder kennen und die Opfer identifizieren könnten. Deshalb meiden viele solcherart Betroffenen Kontakte zu anderen Menschen, wozu auch potentielle UnterstützerInnen gehören. Wie viele KonsumentInnen von Bildmaterial zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung von Kindern es in Deutschland gibt, wissen wir nicht. Aber wir können davon ausgehen, dass diese Art der Pädokriminalität recht weit verbreitet ist und sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht. Laut Expertenmeinung wächst der Markt (wozu auch der Tauschhandel gehört) rasant.
- Die meisten AntragstellerInnen gaben an, beim Verfahren zur Opferentschädigung leer ausgegangen zu sein. Dies üblicherweise, weil ihnen von vornherein Unglaubwürdigkeit unterstellt wurde, ihre Angaben für unglaubhaft erklärt wurden oder sie das Verfahren (Antragstellung und Begutachtung) gesundheitlich, mental, organisatorisch oder finanziell nicht durchstehen konnten.
- Die AntragstellerInnen wählten in der Mehrzahl folgende Sachleistungen
- Fortführung einer spezifischen, zertifizierten Traumatherapie über die kassenfinanzierte Regelleistung hinaus
- Aufnahme einer solchen Intervention, oft nachdem andere kassenfinanzierte Psychotherapien keinen Erfolg brachten oder sogar zu Verschlechterungen führten. Verfahrenswechsel, vor allem wenn schon längerfristig psychotherapeutische Leistungen appliziert wurden, scheitern in der Regel in der Beantragung
- „Hilfe zur Selbsthilfe“, besonders wenn es um die Entscheidung für die Beendigung schädigender Kontakte und die ersten Schritte dahin geht (Motivation)
- praktische Schutzmaßnahmen (u. A. Wohnungswechsel, Umweltkontrollgeräte, Mobilitätshilfen, Namensänderungen, Löschung persönlicher Daten, Begleitung bei notwendigen Wegen)
- Komplementärverfahren, die von den Regelhilfesystemen nicht gewährt werden, aber für schwersttraumatisierte, bzw. dissoziierende Menschen sehr zweckmäßig sind
- Begleitung zum Ausstieg aus dem missbrauchenden Kontext
- praktische Maßnahmen zur Aufarbeitung und zur Distanzierung vom Tätermilieu, zum Beispiel begleitete Reisen zu Tatorten, kreative Projekte zur Veranschaulichung und Verarbeitung des Geschehens
- Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe, deren Struktur speziell auf diese Opfergruppe zugeschnitten ist, die aber den üblichen Rahmen sprengen, zum Beispiel weil Zeit, Ort und die Art der Kontaktaufnahme sehr ungewöhnlich sind und der Helfer einer speziellen Qualifikation bedarf
- Hin und wieder schickten AntragsstellerInnen eine Rückmeldung an die Geschäftstelle, in der sie berichten, inwieweit ihnen die Sachleistungen geholfen haben und wie sie das Verfahren bewerten. Auch von Seiten der BeraterInnen und UnterstützerInnen erhalten wir Betroffenenbeiräte solche Statements. Es wurde zwar zu Recht beklagt, dass das Verfahren beim Fonds Sexueller Missbrauch viel zu lange dauert, aber auch sehr gewürdigt, dass es niederschwellig ist und der schwere Missbrauch nicht von vorneherein in Frage gestellt wird. Sondern stattdessen genau erfragt wurde, inwieweit die beantragten Leistungen die Folgen der sexuellen Ausbeutung mildern oder sogar beheben können. Manche dieser AntragstellerInnen bedankten sich sogar dafür, dass jemand sich mit ihren Erlebnissen beschäftigt hat und die Schilderungen las. Diese Opfer erhalten nicht nur von Seiten ihrer Täter und MittäterInnen Redeverbot, sondern meistens auch durch das Umfeld, in das sie sich mit der Bitte um Hilfe und Unterstützung geflüchtet haben. Dass viele dieser Menschen daran verzweifeln und verbittert wirken, ist auf dieser Grundlage mehr als nachvollziehbar.
Zu den Stärken des Ergänzenden Hilfesystems in seiner bisherigen Form gehörten unserer Überzeugung nach seine Niederschwelligkeit, die Antragsbearbeitung im Gremium, die enge Zusammenarbeit mit der Administration und die Möglichkeit, spezifische, auf den jeweiligen Antragssteller zugeschnittene Leistungen zu gewähren.
Schlecht lief hingegen die Umsetzung des institutionellen Bereichs, insbesondere was den Schutz der Persönlichkeitsrechte der AntragstellerInnen ab dem Zeitpunkt angeht, zu dem die Anträge von der jeweiligen Institution weiterbearbeitet werden. Auch der Beitritt der verschiedenen Organisationen erfolgte nur sehr schleppend. Die meisten Bundesländer haben bis heute nicht in den Fonds eingezahlt. Dass die Öffentlichkeit genauso wie die Experten- und Helferszene bislang kaum etwas über das EHS-FSM weiß, ist angesichts der sehr verhaltenen Werbung dafür kein Wunder.
Kernpunkte des Konzepts „Feuerwehrfonds“- Langfristiges Ergänzendes Hilfesystem
- Individuelle Leistungen
- Angebote für Missbrauchsopfer, die keinen oder einen stark erschwerten Zugang zu gesetzlichen Regelleistungen haben
- Ombudsleute möglich
- Entscheidungen durch multiprofessionell aufgestelltes Expertengremium unter Einbezug von Betroffenen als ErfahrungsexpertInnen
- Angebot an die AntragstellerInnen, das Helfernetzwerk des Feuerwehrfonds zu nutzen
- Evaluation des gesamten Prozesses
- Kontinuität in Arbeit und Betreuung
- Feste AnsprechpartnerInnen
- Besonders gute Erreichbarkeit der Geschäftsstellung (Kommunikation)