Dienstag, 25. Januar 2022
12 Jahre nach dem Missbrauchstsunami – die versprochenen Hilfen aus Opfersicht
Am 28. Januar jährt sich zum 12. Mal der Tag, an dem in Deutschland die dritte Welle der öffentlichen Debatte zu sexuellem Missbrauch einsetzte. Es waren Opfer, die den Missbrauchstsunami unter hohem persönlichen Risiko, Einsatz und mit viel Mut auslösten. Als Reaktion berief die damalige Bundesregierung den RundenTisch Kindesmissbrauch ein und versprach 2011, die im Abschlussbericht vorgeschlagenen Ergänzenden Hilfen in Form eines Fonds umzusetzen. Es blieb erstmal nur bei dem Versprechen, weil sich zeigte, dass die Bundesländer und auch einige Institutionen nicht wirklich hinter dem Projekt standen – obwohl deren VertreterInnen am Runden Tisch diese Lösung selbst mitentwickelt und deren Umsetzung zugesichert hatten. So konnte der Fonds Sexueller Missbrauch erst am 1. Mai 2013 an den Start gehen. Einige der Probleme in der Umsetzung waren vorher nicht vorauszusehen gewesen, die meisten wirkten aber hausgemacht. Der FSM ist ein gutes Beispiel dafür, dass medienwirksame Versprechen der Politik und institutionellen FunktionärInnen das Eine sind – inwieweit man auf sie bauen kann, zeigt sich erst in der Praxis. 2016, als der Missbrauchsfonds eigentlich hätte auslaufen sollen, hatten Mitglieder des Betroffenenbeirates gemeinsam mit Verantwortlichen aus dem BMFSFJ und dem UBSKM ein Konzept entwickelt, das eine Bundesstiftung zur Bereitstellung von Ausstiegshilfen für Opfer Organisierten Missbrauchs, behinderte Betroffene und missbrauchte Kinder und Jugendliche vorsah. Überraschenderweise entschloss sich das Ministerium, den FSM in bisheriger Weise fortzusetzen. Auch dies gab in Rückschau ein fatales Signal. Was dann folgte, war aus unserer Sicht eine Mischung aus bewusster Verschleppung und vorsätzlicher Verkomplizierung der Antragsbearbeitung. Offenbar mit dem Ziel, für die MitarbeiterInnen der Geschäftsstelle feste Stellen zu schaffen, indem sie unablässig die angeblich übergroße Arbeitsbelastung beklagten. Dabei hatten ehrenamtlich beim FSM Engagierte, darunter RichterInnen und Betroffene, die mit Verwaltungsvorgängen vertraut sind, schon 2014 Vorschläge zur beschleunigten Bearbeitung unterbreitet, zu diesem Thema fand 2016 im BMFSFJ auch eine große Sitzung statt. Eine von vielen Beratungen und Konferenzen, an denen Mitglieder des Betroffenenbeirates und wir als Betroffene im Lenkungsausschuss des Fonds über den ganzen Zeitraum teilgenommen haben. Der Antragsberg wuchs trotzdem, die Bearbeitung dauerte immer länger. Erst als den MitarbeiterInnen der Geschäftsstelle 2019 unbefristete Beschäftigungen in Aussicht gestellt wurden, wendete sich das Blatt. Auf einmal war man in der Lage, zügig und dennoch sorgfältig zu arbeiten – und das mit nur einem Teil des damals dort beschäftigten Personals. Als im September 2019 eine Interimsleitung die Geschäftsstelle übernahm, dauerte es nicht lange, bis die mittlerweile auf fast 50 Vollzeitäquivalente angewachsene Schar von Beschäftigten so gut wie keine Anträge mehr bearbeitete und auch keine Rechnungen mehr bezahlt wurden. Unseren mehrfachen schriftlichen Nachfragen wich man im BMFSFJ aus.
Mutmaßlich hatte man auf Kosten der Opfer und deren HelferInnen versucht, beim BMF eine Zusage für eine größere Anzahl fester Stellen zu erhalten, um den FSM dann ganz an das BAfZA übergeben zu können. Das BAfZA wird die Stellen auch dann behalten, wenn der FSM geschlossen wird. Was die lange Untätigkeit, das Hingehalten werden, die Ungewissheit bei den AntragstellerInnen auslösen würde, schien aus Sicht der politisch Verantwortlichen nicht von Belang gewesen zu sein. Deutlicher kann man seine Verachtung gegenüber Missbrauchsopfern und deren UnterstützerInnen nicht zum Ausdruck bringen. Besonders bitter: teils wurden Hilfen zum Ausstieg aus Organisiertem Missbrauch beantragt, von denen nicht nur die erwachsenen AntragstellerInnen, sondern auch deren ebenfalls missbrauchten Kinder profitiert hätten. Wir sind fassungslos, dass ein Ministerium, das in seiner Öffentlichkeitsarbeit den Kinderschutz beschwört und seine Bürgerlnnen aufruft, sich um Kinder in Not zu kümmern, selbst stark gefährdete Kinder im Stich lässt. Und das aus rein strategischem Eigennutz.
Mittlerweile hat die Geschäftsstelle eine neue Leitung, es wird offenbar wieder gearbeitet, es werden zeitnah Rechnungen bezahlt, der Antragsberg ist abgebaut. Gleichzeitig scheinen aber die von der Geschäftsstelle veröffentlichten Zahlen nicht zu stimmen. So heißt es auf der Homepage, es gäbe keine unbearbeiteten älteren Anträge mehr, gleichzeitig mussten wir von der Basis erfahren, dass noch nicht angefasste Anträge aus dem Jahr 2015 existieren. Was das zuständige Referat im BMFSFJ auf unsere hartnäckige Anfrage hin auch bestätigte. Im Jahre 2020 häuften sich bei Mitgliedern des Betroffenenbeirates die Anfragen von AntragstellerInnen und deren HelferInnen, was in der Geschäftsstelle los sei und wie man die überhaupt erreichen könne. Die von Anfang an vollkommen unzureichende Öffentlichkeitsarbeit für den FSM versuchen wir seit Jahren aus eigener Kraft zu kompensieren. Immerhin wurde so die Aufmerksamkeit für das Thema Sexueller Missbrauch ein Stück weit mit erhöht.
Es ist schade, dass die einstmals vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem BMFSFJ und der Geschäftsstelle aus unserer Sicht nicht mehr gegeben ist. Denn sex. Missbrauch ist kein Verbrechen der Vergangenheit, die Opferzahlen sind ungebrochen hoch und liegen bei 13 %. Trotz aller Schwierigkeiten hat der Betroffenenbeirat das BMFSFJ und die Geschäftsstelle all die Jahre über unterstützt. Wohl wissend, dass bei einem Scheitern des FSM, gerade den Opfern Organisierten Missbrauchs die einzige niederschwellig erreichbare Hilfsmöglichkeit wegfallen würde.
Welch niedrigen Stellenwert Kinderschutz und Opferhilfen in der Politik haben, zeigt auch, dass Opfer aktuellerer Fälle, solche die erstmals nach dem 30.6.2013 missbraucht worden sind, nicht mal das Recht haben, beim FSM um Hilfen zu bitten. Ein Unding! Konkret heißt das, die Opfer aus Bergisch Gladbach und Münster, deren Fälle durch die Presse gingen, könnten keine Ergänzenden Hilfen erhalten. Nicht mal, um aus ihrem familiären TäterInnenkreis auszusteigen. All die Kinder und Jugendlichen, die wegen Lockdowns in ihren Missbrauchsfamilien ihren TäterInnen ausgesetzt sind, erhalten keine Unterstützung beim Fonds.
Die Indizien weisen darauf hin, dass die politisch Verantwortlichen den Fonds Sexueller Missbrauch schließen wollen. Ministerin Spiegel scheint andere Prioritäten zu setzen. Außerdem wurde vom BMFSFJ für 2023 beim BMF kein zusätzliches Geld beantragt, obwohl die Eingangszahlen der Anträge sich im Vergleich zu den Jahren vorher nicht geändert haben. Wir gehen davon aus, dass der Anfang letzten Jahres einsetzende Arbeitseifer in der Geschäftsstelle dazu dienen soll, die Anträge möglichst schnell vom Tisch zu haben, um den Fonds geräuschlos schließen zu können. Wenn dann noch, wie im vergangenen Dezember geschehen, von Seiten der Geschäftsstelle gefragt wird, womit sich der Betroffenenbeirat denn eigentlich beschäftige, betrachten wir das als pure Frechheit und bewussten Affront.
Vor diesem Hintergrund, aus diesen Erfahrungen heraus würden die Mitglieder des Betroffenenbeirates und wir uns aus heutiger Sicht ganz anders verhalten haben, als sich die Politik im Januar 2010 einer Situation ausgesetzt sah, auf die sie absolut nicht vorbereitet war und mit der sie sichtlich überfordert war. Wir hätten geholfen, den hohen Druck, unter dem die PolitikerInnen und die betreffenden Institutionen standen, weiter massiv zu erhöhen, anstatt uns vorschnell auf Kompromisse einzulassen. Die fehlenden Hilfen sind schlimm für viele der 10 Millionen Missbrauchsopfer in unserem Land, demotivieren aber auch die zahlreichen UnterstützerInnen der Opfer. Im Zuge der Zusammenarbeit mit dem BMFSFJ haben wir dort einige MitarbeiterInnen schätzen gelernt, die sich trotz aller Widerstände sehr für Missbrauchsbetroffene und den Kinderschutz einsetzen. Auch diese erhalten das Signal, dass die große Mehrheit der politischen EntscheidungsträgerInnen sie nicht unterstützen will.
Aber wir sind sehr optimistisch: es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächsten großen Skandale unser Land überrollen, die Politik gegenüber der Öffentlichkeit kaum was vorzuweisen hat und so entstünde wieder Motivation, etwas für Opfer und gegen Kindesmissbrauch zu unternehmen. Wir haben in den 12 Jahren viel dazu gelernt, es sind tragfähige Arbeitsbeziehungen entstanden, die ein langfristiges ehrenamtliches Engagement erlauben. Dazu gehört auch das Vertiefen der Pressekontakte.
Insofern blicken wir zuversichtlich und sehr gespannt auf den weiteren Verlauf des Jahres 2022.
Maren Ruden Betroffenenvertreterin im Lenkungsausschuss und Betroffenenbeirat EHS-FSM
Jacqueline Ehmke Betroffenenvertreterin im Lenkungsausschuss und Betroffenenbeirat EHS-FSM