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Sonntag, 6. August 2023

10 Jahre Fonds Sexueller Missbrauch als Ergänzendes Hilfesystem für Missbrauchsopfer – Rückschau, Bestandsaufnahme und Blick in die Zukunft

Jacqueline Ehmke

Vorsitzende des Betroffenenbeirates beim

Fonds Sexueller Missbrauch

Mitglied im Lenkungsausschuss


Die Mitglieder des Betroffenenbeirates beim Fonds Sexueller Missbrauch und ich müssen unsere Rückschau leider mit einer sehr traurigen Nachricht beginnen: Am 28. Mai dieses Jahres ist Maren Ruden, die zusammen mit mir eine der beiden Betroffenen im Lenkungsausschuss und Co-Vorsitzenden im Betroffenenbeirat beim Fonds Sexueller Missbrauch war, nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Unser Nachruf https://spiegelstelle.de/beitrag?id=68.

Maren Ruden zeichnete aus, wie sie versuchte, aus jeder Situation das Beste zu machen und auch in schwierigen Zeiten zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. In diesem Sinne freuen die Mitglieder des Betroffenenbeirates und ich uns sehr, dass Hermann Schell sich so kurzfristig bereit erklärt hat, die Nachfolge Maren Rudens im Lenkungsausschuss und als mein Co-Vorsitzender anzutreten.

Hermann Schell ist Opfer einer Institution (Kinderkrankenhaus) und engagiert sich im Verein MissBiT e.V. https://missbit.de/. Deshalb sind auch im Lenkungsausschuss jetzt familiäre und institutionelle Betroffene vertreten und der Fokus kann stärker als zuvor auf die Belange institutioneller Opfer gelegt werden, was mittelbar auch familiären Missbrauchsbetroffenen zu gute kommen wird, z.B. was die gesetzliche Opferentschädigung, die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Berichte mutmaßlicher Opfer und die Bewertung von Traumafolgestörungen angeht.

Über Anträge der Opfer von Institutionen wird im als Ergänzendes Hilfesystem (EHS) bezeichneten institutionellen Teil des Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) in einem spezialisierten Gremium der Clearingstelle beraten, dem zwei Betroffene und je eine Person aus der psychotherapeutischen, medizinischen sowie juristischen Berufsgruppe angehören https://www.fonds-missbrauch.de/fsm-familiaer/organisation. Der Fonds Sexueller Missbrauch wird von unserem Betroffenenbeirat und von einem Begleitenden Rat, der aus Fachpersonen und Betroffenen besteht, bei inhaltlichen Fragen unterstützt. Die Geschäftsstelle prüft den Antrag in Zusammenarbeit mit dem spezialisierten Gremium auf Vollständigkeit und Plausibilität https://www.fonds-missbrauch.de/fileadmin/FSM/Dokumente/Antragsformular_EHS_instituti onell.pdf (S. 3). Inwieweit ein positiver, von der jeweiligen Institution anerkannter EHS- Bescheid bei einem zivilrechtlichen Verfahren gemäß institutioneller Amtshaftpflicht von Bedeutung wäre, sollte geprüft werden https://hpd.de/artikel/kirche-haftet-21375. Das Problem der als von der damaligen Referatsleitung im BMFSFJ als 'aus dem System herausgefallen' bezeichneten Anträge ist leider noch nicht geklärt, das dazu von einem ​ Mitglied des Betroffenenbeirates beim Berliner Verwaltungsgericht angestrengte Verfahren läuft noch.

Erkenntnisgewinn: aus der Bearbeitung der Anträge und der Beratung der Gruppe der Ehrenamtlichen mit der Geschäftsstelle ergeben sich nach wie vor wertvolle Informationen zu Ursachen, Umständen und Folgen des sex. Missbrauchs und zu hilfreichen Maßnahmen. Aber auch über die Probleme, denen Opfer und HelferInnen sich nach wie vor, 12 Jahre nach dem Abschlussbericht des Runder Tisch Kindesmissbrauch https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93204/2a2c26eb1dd477abc63a6025bb1b24b9/ abschlussbericht-runder-tisch-sexueller-kindesmissbrauch-data.pdf ausgesetzt sehen. Zwar macht sich ein gesellschaftlicher Wandel bemerkbar, z.B. durch eine veränderte Haltung zu Selbstbestimmungsaspekten im Umgang mit Sexualität, aber es gibt auch immer wieder Rückschläge, zuletzt erkennbar an einer von verschiedenen Interessengruppen durchgeführten Kampagne zum Thema „Rituelle Gewalt“ https://www.aufarbeitungskommission.de/service- presse/service/meldungen/stellungnahme-zur-pauschalen-infragestellung-von-betroffenen- sexuellen-kindesmissbrauchs-in-organisierten-und-rituellen-strukturen/. Das ist besonders bitter, zumal 1/5 der mittlerweile 24 000 Fonds-Anträge zum Tatkomplex 'Organisierte sexuelle Ausbeutung/Ritueller/Sektenähnlicher Missbrauch' gehören. Weshalb diese Opfergruppe genauso wie minderjährige und behinderte Betroffene auf jeden Fall langfristig Ergänzende Hilfen benötigen https://spiegelstelle.de/beitrag?id=54 Wir als Betroffenenbeirat sind deshalb froh, dass der zweite Schritt einer Auswertung der aus der Bearbeitung der Anträge gewonnen Erkenntnisse im Mai vergangenen Jahres auf einer von uns selbst organisierten Veranstaltung vollzogen werden konnte. Im dritten Schritt werden die Ergebnisse externen Fachleuten vorgestellt und mit diesen diskutiert. Danach ist eine Veröffentlichung geplant.

Trotz aller Verbesserungen: der Schutz von Kindern, Jugendlichen und besonders vulnerablen Erwachsenen wird leider immer noch zu wenig berücksichtigt. Bsp.: das vom BMFSFJ maßgeblich entwickelte Selbstbestimmungsgesetz, was das bisherige Transsexuellengesetz ablösen soll https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/queerpolitik-und- geschlechtliche-vielfalt/gesetz-ueber-die-selbstbestimmung-in-bezug-auf-den- geschlechtseintrag-sbgg--199332. In dessen Text wird nicht berücksichtigt, dass eine Geschlechtsdysphorie auch eine Traumafolgestörung im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch sein kann:
>Die Möglichkeit nicht ausreichend behandelter Psychosen, verschieden-geschlechtlicher „Ego States“ oder von Zwangsgedanken zur Selbstkastration sollten differentialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden.< (https://register.awmf.org/assets/guidelines/138- 001l_S3_Geschlechtsdysphorie-Diagnostik-Beratung-Behandlung_2019-02.pdf S. 31). Zu „Ego States“: https://www.aerzteblatt.de/archiv/156427/Ego-State-Therapie-Bis-ins-Detail- nachvollziehbar Von Dissoziativer Identitätsstruktur/-störung, in der ein Mensch verschiedene Persönlichkeitsanteile ausbildet, die nur zum Teil oder gar nicht integriert werden können, sind Opfer komplexer Traumatisierung in Folge sex. Missbrauchs und weiteren Formen von Gewalt überproportional häufig betroffen.

Aus unseren Erfahrungen heraus möchten wir darauf aufmerksam machen, dass manche TäterInnen es darauf anlegen, die physischen Geschlechtsmerkmale ihrer Opfer, deren geschlechtliche Identität und deren formalen Personenstand beim Standesamt in ihrem Sinne ändern zu lassen. Zwar ist die Gruppe der von Geschlechtsdysphorie Betroffenen verhältnismäßig klein, aber das sexuelle Interesse an ihr, gerade in Bezug auf minderjährige trans Personen, wächst. Wie alle kulturell bedeutsamen Gewohnheiten von Menschen ​ unterliegt auch der Bereich der sexuellen Präferenzen und Verhaltensweisen Veränderungen und Moden.

Ausblick: wir als FSM-Betroffenenbeirat suchen neue Mitglieder. Opfer und Mitbetroffene, die Interesse haben, ehrenamtlich bei uns mitzuarbeiten, melden sich bitte bei Angelika Oetken, Co-Sprecherin des Betroffenenbeirates unter info@ergo-oetken.de.

Berlin, den 30.7.2023

Jacqueline Ehmke