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Sonntag, 2. Juni 2024

Der Bundesrechnungshof hat verkündet, die Bundesregierung habe beschlossen, den Fonds Sexueller Missbrauch als Ergänzendes Hilfesystem für Missbrauchsopfer einzustellen - unsere Stellungnahme (Überschrift am 27.10.2024 geändert)

Jacqueline Ehmke
Hermann Schell
Vorsitzende des Betroffenenbeirates beim
Fonds Sexueller Missbrauch
Mitglieder im Lenkungsausschuss


Zur Entscheidung der Bundesregierung, den Fonds Sexueller Missbrauch als Ergänzendes Hilfesystem für Missbrauchsopfer einzustellen

Laut des jüngsten Berichts des Bundesrechnungshofes an den Bundestag über den Finanzhaushalt 2023, hat die Bundesregierung die Einstellung des Fonds Sexueller Missbrauch beschlossen. Im Folgenden zitieren wir aus diesem Dokument und kommentieren dessen Inhalt.
https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2024/ergaenzungsband-2023/34-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Ergänzung/Aktualisierung am 15.9.2024: bisher existiert keine Veröffentlichung der Bundesregierung/des Bundes selbst, in dem ein Beschluss, den Fonds Sexueller Missbrauch zu beenden, verkündet wird. Aber die Zeit für die Abrechnung bewilligter Leistungen wurde Ende Juli auf drei Jahre befristet https://www.fonds-missbrauch.de/aktuelles/aktuell/dreijaehrige-abrechnungsfrist-fuer-bewilligte-leistungen. Außerdem haben sich die Bearbeitungszeiten wieder verlängert. Die Geschäftsstelle des Fonds Sexueller Missbrauch begründete das Anfang September mit einer stark gestiegenen Zahl eingehender Anträge https://www.fonds-missbrauch.de/aktuelles/aktuell/bearbeitungszeiten-beim-fsm-1

Ergänzung/Aktualisierung 27.10.2024: für die Jahre 2026 - 2028 wurden im Bundeshaushalt 2025 Gelder mittels Verpflichtungsermächtigungen eingeplant, um AntragstellerInnen die Inanspruchnahme bewilligter Leistungen zu ermöglichen.


1.

>Die Regierungskoalition hat inzwischen beschlossen, den Fonds einzustellen.<

Begründet wird das wie folgt:

>Vor zehn Jahren richtete die Bundesregierung den Fonds ein. Er gewährt Betroffenen von sexuellem Missbrauch Hilfen, die die gesetzlichen Leistungen ergänzen. Das BMFSFJ verwaltet ihn und missachtet dabei grundlegende Vorgaben des Haushaltsrechts. Damit verletzt es auch das Budgetrecht des Parlaments. Es ist nicht bereit, sein Vorgehen zu ändern. Wie das BMFSFJ die wachsende Finanzierungslücke schließen will und wann es die Rechtsprobleme lösen wird, ist nicht ersichtlich<

Unsere Einschätzung:

Auch wenn der Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) seit seiner Gründung im Mai 2013 mit einer Ausnahme im Jahr 2019 nie wirklich rund lief, haben wir als Betroffene im Lenkungsausschuss des Fonds ihn in Abstimmung mit den Mitgliedern des Betroffenenbeirates beim FSM immer unterstützt. Wohl wissend, dass es sich um eine der seltenen niederschwelligen ergänzenden Hilfemöglichkeiten handelt, die für einige Opfergruppen sogar die einzig einigermaßen sicher erreichbare ist. Siehe unsere im vergangenen Jahr veröffentlichte Stellungnahme:

>10 Jahre Fonds Sexueller Missbrauch als Ergänzendes Hilfesystem für Missbrauchsopfer – Rückschau, Bestandsaufnahme und Blick in die Zukunft<

https://spiegelstelle.de/beitrag?id=69

Der Runde Tisch Kindesmissbrauch schlug dieses Ergänzende Hilfesystem für Missbrauchsopfer (EHS) aus triftigem Grund Ende 2011 in seinem Abschlussbericht vor. Die Lage hat sich für Betroffene seitdem in einigen Punkten zwar verbessert, aber die grundsätzlichen Probleme blieben erhalten. D.h. für bestimmte Gruppen von Missbrauchsopfern werden weiterhin die gesetzlichen Regelleistungen ergänzende Hilfen benötigt.

2.

So schreibt der Bundesrechnungshof zum Fonds:

>Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) plante, den Fonds durch eine gesetzliche Regelung zu verstetigen. Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) machte gegenüber dem BMFSFJ wiederholt deutlich, dass es dies nicht für notwendig erachte, da aus seiner Sicht bereits am 1. Juli 2013 die Rechte von Betroffenen sexuellen Missbrauchs gesetzlich gestärkt worden seien. Außerdem verwies es darauf, dass ab dem 1. Januar 2024 das Soziale Entschädigungsrecht (Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch) neu geregelt sei.<

Unsere Einschätzung:

Die Formulierung „bereits am 1. Juli 2013 die Rechte von Betroffenen sexuellen Missbrauchs gesetzlich gestärkt worden seien“ bezieht sich auf das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs

(StORMG).
(Vgl.: https://www.bundesgerichtshof.de/DE/Bibliothek/GesMat/WP17/S/Stormg.html)

Darin geht es um die Rechte von Missbrauchsopfern in Strafverfahren. Eine wichtige Verbesserung, die aber nur den Betroffenen zugutekommt, bei denen Straf- oder Zivilverfahren geführt werden. Das ist nur ein kleiner Teil der Opfer sexuellen Missbrauchs. Zudem verjährten bis zur Änderung der Gesetze 2013 und 2016 Fälle von sexuellem Missbrauch schnell, d.h. der überwiegende Teil der Geschädigten kann weder straf-, noch zivilrechtlich etwas erreichen.

Inwieweit die Neuregelung des staatlichen Sozialen Entschädigungsrechts, bisher als Opferentschädigungsgesetz (OEG) bezeichnet, durch Missbrauchsfolgen geschädigten Opfern hilft, das, was ihnen von Gesetz wegen zusteht, leichter und besser zu erhalten als bisher, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Denn das neue System läuft dieses Jahr erst an, die Umsetzung wird dauern und inwieweit es besser funktioniert als das alte, ist erst in Rückschau beurteilbar.

3.

>Ein Konzept für eine geordnete Abwicklung ist nicht erkennbar, im Gegenteil: Tausende Bescheide sind noch nicht abgerechnet. Es wird mehrere Jahre dauern, bis die Verfahren beendet sind.

Unsere Einschätzung:

Hier unterstützen wir als Mitglieder des Lenkungsausschusses gern alle damit Befassten. Es geht nicht nur um den leitliniengerechten Umgang mit bisher noch nicht entschiedenen Anträgen, die ordnungsgemäße, zeitnahe Bezahlung von Rechnungen, sondern auch um die von der damaligen Referatsleitung als „aus dem System herausgefallen“ bezeichneten Anträge. Sie müssen aufgefunden, die AntragstellerInnen kontaktiert und die Anträge so schnell wie möglich entschieden werden.

Auch wenn das BMFSFJ auf der Homepage des Fonds Sexueller Missbrauch das Gegenteil behauptet: als Betroffene im Lenkungsausschuss des FSM gehen wir davon aus, dass dieser Ausschuss und damit auch der uns beratende Betroffenenbeirat, formal weiter existieren. Auf jeden Fall aber so lange, wie das Verwaltungsgericht nicht anders entscheidet. Das Problem der „aus dem System herausgefallenen Anträge“, wie es die damalige Referatsleitung formulierte, wurde bisher vom BMFSFJ, das die Fachaufsicht über die Geschäftsstelle des Fonds führt, nicht angegangen. Das aus diesem Anlass von einem Mitglied des Betroffenenbeirates im Oktober 2022 beim Berliner Verwaltungsgericht angestrengte Verfahren läuft noch, d.h. eine Entscheidung wurde bisher nicht gefällt. Siehe dazu unsere Stellungnahme vom 6. August 2023:

>10 Jahre Fonds Sexueller Missbrauch als Ergänzendes Hilfesystem für Missbrauchsopfer – Rückschau, Bestandsaufnahme und Blick in die Zukunft<

https://spiegelstelle.de/beitrag?id=69.

Vor Kurzem erfuhr ein Mitglied unseres Betroffenenbeirates anlässlich einer Veranstaltung, dass auch eine Betroffene des Tatkontextes Evangelische Kirchen Deutschlands berichtet, ihren Antrag 2016 an die Geschäftsstelle gesandt, aber bisher keine Antwort erhalten zu haben. Bedeutet: auch im institutionellen Teil des Fonds Sexueller Missbrauch sollte nach „herausgefallenen Anträgen“ gesucht werden.

Darüber hinaus möchten wir uns zur mit „Satanic Panic“ bezeichneten Diffamierungskampagne äußern, an der sich u.a. Jan Böhmermann in seiner Sendung „Magazin R0yal“ beteiligt hat. Die Mitglieder des Betroffenenbeirates haben diese Angelegenheit verfolgt und teilen die Einschätzung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie:

https://www.degpt.de/archiv/upload/Fach-Informationen/PDFS_Fachinformationen/QA%20Psychotraumatologie_annex1.pdf

Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass beim Fonds Sexueller Missbrauch überproportional viele Anträge eingegangen sind, in denen Kernkennzeichen der Organisierten Sexuellen Ausbeutung, des Rituellen Missbrauchs und des Sektenähnlichen Missbrauchs zu finden sind (= ca. 20 %). Deshalb wurde in die Fonds-Antragsformulare eine spezielle Textzeile eingefügt. Wir führen den verhältnismäßig großen Anteil darauf zurück, dass diese Opfergruppen besondere Probleme haben, im gesetzlichen Regelhilfesystem die benötigte Unterstützung zu erhalten. Das 2015/2016 im Bundesfamilienministerium umrissene Konzept „Bundesstiftung Ausstiegshilfen“ könnte diesen Betroffenen und mittelbar auch deren Angehörigen helfen, aus dem Organisierten Missbrauch auszusteigen. Dazu: https://spiegelstelle.de/beitrag?id=54 (Bundesstiftung Ausstiegshilfen – Feuerwehrfonds).

Die Zahl der Anträge, die seit Mai 2013 in der Geschäftsstelle des FSM eingegangen sind, beträgt 30 000./p>

Positiv: sehr gut entwickelt sich die durch Opfer und Mitbetroffene betriebene Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in Institutionen sowie die institutionelle Entschädigung. War es vor ein paar Jahren für institutionell Betroffene noch schwer, überhaupt einen Anwalt zu finden, laufen aktuell verschiedene Verfahren wegen institutionellen Schadenersatzes (Amtshaftung) gegen kirchliche Organisationen. Noch offene Fragen werden in dem Zuge geklärt, Fehlannahmen korrigiert.

Aus Erfahrung und durch die Informationen, die uns zugetragen werden, wissen wir, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis neue, als skandalös empfundene Nachrichten zu komplexen Missbrauchsfällen durch die Medienticker laufen. Wir erinnern an Sebastian Edathy 2013, an die Aufdeckung der Fälle Organisierten Missbrauchs in Staufen (2017), denen weitere in Lügde, Bergisch Gladbach, Münster folgten. Leider sind solche Skandale nötig, um dem Thema das nötige Gewicht zu verleihen.

Bei einer weiterführenden Neuauflage des Ergänzenden Hilfesystems für Missbrauchsopfer sollten die Irrtümer und Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt, sondern aus falschen Entwicklungen gelernt werden.

Die Mitglieder unseres Betroffenenbeirates und wir sind an der Stelle sehr zuversichtlich.



Berlin, den 28. Mai 2024
Jacqueline Ehmke
Hermann Schell